westwärts

Nun ist es an der Zeit Kiew und damit auch der Ukraine den Rücken zu kehren. Ich habe langsam genug von Großstadt und den vielen Sehenswürdigkeiten, fühle mich irgendwie gesättigt. Also starte ich in den Morgenstunden den Kadett und wühle mich durch Kiew. Parallel zur weißrussischen Grenze fahre ich dann in Richtung Westen und erfreue mich an der relativ guten Straße. Die Schlaglöcher halten sich hier in Grenzen und ich komme weitaus zügiger voran, als gedacht. Hatte eigentlich noch eine Zwischenübernachtung eingeplant, aber das lasse ich nun bleiben.
So bin ich Mittags schon im Grenzgebiet zu Polen und beschließe noch heute einzureisen. Bei dem schmuddeligen Wetter habe ich ohnehin keine Lust mir noch irgendwas anzugucken.

Auf den ersten Blick sieht der Stau recht human aus. Die Ausreise geht auch relativ zügig, ein paar Fragen beantworten, Pass stempeln und noch ein Blick in den Kofferraum. Und dann heißt es anstehen. Rund 3 Stunden stehe ich im Stau, bis ich schließlich zu der EU-Pass-Reihe komme. Hier stehen zwar nur sehr wenige Autos an, aber es geht leider auch nicht wirklich schneller. Immer wieder kommen ein paar polnische Zöllner, mögen immer wieder in den Kofferraum blicken und sonst wird mein Auto überhaupt nicht kontrolliert. Alle anderen müssen sämtliches Gepäck ausladen und ausbreiten. Ich bin aber auch der einzige, der weder aus Polen noch aus der Ukraine kommt.
Insgesamt vergehen rund sechs Stunden und schon bin ich in Polen. In Chelm gehe ich gemütlich Abendessen und überlege dann kurz ob ich bleiben soll. Gefallen tut es mir aber nicht, auf Lublin und Großstadt habe ich keinen Bock und quäle mich dann in der Dunkelheit bis Warschau. Ab hier gibt es dann endlich wieder vernünftige Autobahnen, das Hörbuch in meinem Radio gefällt mir prächtig und ich habe noch immer Lust zu fahren. Also rutsche ich in einem Stück durch bis nach Berlin. Die Autobahnen bis Deutschland sind in hervorragenden Zustand, Warschau bis Frankfurt(Oder) kostet jedoch rund 30,-€ und weitere Mautstellen folgen. Viele sind noch im Bau, werden aber mit Sicherheit in naher Zukunft in Betrieb sein.

In den frühen Morgenstunden komme ich in Berlin an, strecke mich ganz ausgiebig und wecke dann Frau Doppel-E. Die muss jetzt ohnehin bald zur Arbeit und ich niste mich derweil in ihrer Wohnung ein, döse den gesamten Tag und schalte so richtig ab. Tut auch Not, von Kiew nach Berlin in 20 Stunden macht man in meinem Alter ja eigentlich auch nicht mehr.

tschernobyl

Für morgen habe ich eine Tour nach Tschernobyl geplant mit Besuch des neuen Sarkophages und der Geisterstadt Prypjat. Seit vielen vielen Jahren beschäftige ich mich schon mit der Katastrophe und habe es bisher immer vor mich hingeschoben das einmal zu machen. Nun bin ich aber wahrlich kein Katastrophentourist und auch kein ultraurbaner Lostplace-Freak der den nächstgrößten Kick sucht. Stattdessen gehe ich an die Sache ran, wie ich es für richtig halte. Nämlich genau so wie ich zum Beispiel Orte wie Ausschwitz besuche. Ich betrachte Tschernobyl als Gedenkstätte und habe durchaus auch einen gewissen Respekt vor der Strahlung und mein Wirken vor Ort auf die Bevölkerung und die Arbeiter.

So gehe ich heute zu Fuß in eine andere Ecke von Kiew wo sich das nationale Tschernobyl-Museum befindet. Fast vier Stunden halte ich mich hier auf, höre mir den gesamten Audioguide durch, gucke ungläubig auf Hunderte Exponate und erfahre auch hier von vielen Schicksalen rund um Tschernobyl.Wie ich herausstapfe ist meine Vorfreude auf die morgige Tour irgendwie vergangen und zurück im Hotel lese ich nochmal ein Buch, das ich vor zehn Jahren schon einmal gelesen habe. „Die Chronik der Zukunft“ von Swetlana Alexijewitsch sollte unbedingt jeder lesen, der nach Tschernobyl Reisen möchte. Mir ist dadurch nämlich die Lust gänzlichst vergangen. Angesichts der Katastrophe und des unvorstellbaren, verbrecherischen Umgangs mit der Zivilbevölkerung in Weißrussland sowie der Ukraine überlege ich ernsthaft morgen einfach nicht in diesen blöden Bus zu steigen. Es ist entsetzlich welches Leid die Millionen von Betroffenen bis heute umgibt und wenn man bedenkt dass vor einigen Jahren in Fukushima die Verantwortlichen ähnlich verantwortungslos gehandelt und gelogen haben, täte man am liebsten kotzen.

Am Morgen laufe ich dann zum Treffpunkt und als sei da eine höhere Macht am Werk, können vier Personen der Gruppe nicht mit in die Sperrzone. Die Agentur hat bei allen vier Deutschen nämlich als Staatsangehörigkeit „United States“ angegeben. So sind unsere Permits für die Sperrzone ungültig und das Militär lässt uns nicht herein. Gestern noch hatte ich zwar „irgendwie keine Lust mehr darauf“, aber als mir jetzt eine kleine Last von den Schultern fällt, wird auch mir klar dass es wohl besser ist wenn ich nicht dort hinfahre. Die drei anderen sind natürlich heftig enttäuscht, zwei davon sind nur deshalb überhaupt in die Ukraine geflogen und die Dritte weint einfach nur. Die Veranstalter bietet uns sofort eine Gratis-Tour für in zwei Tagen an, wir bekommen unser bereits bezahltes Geld zurück und ich lehne dankend ab.
Da werde ich jetzt sicher einige Nächte darüber schlafen, nach wie vor bin ich glücklich über die Umstände – auch wenn ich schon seit so vielen Jahren da immer mal hinwollte. Sollte sich etwas daran ändern und ich vielleicht doch hinwollen sollte, so kenne ich ja nun den Weg und scheue ihn garantiert nicht. Was sind schon ein paar Kilometer?

flieger, krieg & mehr

Der Ruhetage war eine echte Wohltat, ich habe viel gelesen und noch viel mehr geschlafen – ein Traum. Nun aber setze ich mich in den Kadetten und fahre zum Flughafen von Kiew. Hier gibt es ein Luftfahrtmuseum und nachdem ich in Belgrad schon auf flügellahme Flugzeuge geschaut habe, ist meine Lust nicht allzu groß. Es liegt aber auf dem Weg und angesichts den geringen Eintrittpreises schlender ich eben ein wenig durch die Reihen und schau mir das Ganze einfach mal an.

Anschließend fahre ich zur Mutter-Heimat-Statue, dort bin ich die letzten Tage mangels gutem Wetter nicht hin. Die Statue ist nämlich recht hoch und verschwindet gern im Nebel. Auch die Aussicht rundum ist recht gelungen und heute scheint endlich mal die Sonne. Ich genieße einen langen Spaziergang rund um das Areal und gehe zum Abschluss noch in das Museum des großen vaterländischen Krieges. Auch hier ist die Revolution von 2014 ein großes Thema, der Krieg im Osten und natürlich der 2. Weltkrieg. Dieser wird kategorisch ausgestellt, erklärt und mit unzähligen Exponaten nahe gebracht. Das Mit Abstand beste Museum in dieser Art, in dem ich je war. Fast den ganzen Tag verbringe ich hier, lese mir das Gehirn wund und spaziere anschließend nochmal durch den Park um die Birne etwas frei zu kriegen. Den Abend verbringe ich wieder am Bahnhof, stopfe mich voll und schlendere noch durch eine große Mall um einige Besorgungen zu erledigen. Das Einkaufszentrum ist riesengroß, aber finden tu ich nichts. Stattdessen verlaufe ich mich permanent und finde stets artverwandtes von dem, das ich gerade brauche. Mit Hilfe der durchweg freundlichen Ukrainerinnen bekomme ich dann schließlich alles das ich brauche und verkrümel mich wieder in mein Hotel.

euromaidan

Nun bin ich am Euromaidan, der große Platz in der Kiewer Innenstadt, der 2014 auf so traurige Weise berühmt wurde. Sicher können wir uns alle an die Tage erinnern, wo sich die Ereignisse hier überschlagen haben. Rund 100 Menschen starben während der Proteste auf diesem Platz und ich kann noch heute kaum fassen, wie das passieren konnte. Da schießen Scharfschützen auf die Zivilbevölkerung, der Präsident Janukowytsch flieht, die Oppositionen scheinen dem Rechtsruck nichts entgegenwirken zu haben und in all dem Chaos holt sich Putin mal eben die Krim zurück und marschiert stillheimlich im Osten der Ukraine ein, während die restliche Welt einfach zuschaut, Diplomaten große Reden schwingen und man dem Russen minimale Sanktionen auferlegt. Eine turbulente Zeit und ich habe bis heute den Eindruck, dass sich nicht vieles getan hat. Die Bevölkerung ist nach wie vor gespalten in der Frage ob man sich der EU nähert oder den Russen, die Krim ist noch immer besetzt und die Ostukraine kommt nicht zur Ruhe.

Immerhin ist auf dem Maidanplatz wieder Ruhe eingekehrt. Das Haus der Gewerkschaften ist abgedeckt – es brannte während der Unruhen vollständig aus – und sonst ist alles renoviert und die gesamte Umgebung gleicht einem Totenschrein. Allen toten Helden der Revolution wird gedenkt, ein Meer aus Kerzen, Bildern, Blumen und Andenken. Am Platz der Unabhängigkeit kann man sich über die letzten beiden Revolutionen informieren und auf dem gesamten Platz läuft es einem eiskalt den Rücken herunter, wenn man sich an die Bilder und Videos von vor vier Jahren erinnert.
Nun verkrieche ich mich im Hotel und schalte vorerst mal wieder ein bisschen ab, genug der Reize.